Cellitinnen 3_2016
Kultur | Freizeit
Sag mir, wohin du fährst … Reisen tragen uns durch das Leben
Endlich Urlaub! Millionen von Bun- desbürgern zieht es in den Som- mermonaten in die Ferne, ans Meer oder in die Berge. Zeit für die Fa- milie, Sonne tanken, den Kopf frei bekommen – im Urlaub gönnen wir uns Dinge, von denen wir im alltäg- lichen Leben nicht genug haben. Für unser Gedächtnis hat das Rei- sen eine besondere Bedeutung. Je unbekannter die Situationen sind, denen wir unterwegs begegnen, desto besser können wir uns daran erinnern. Urlaube und Reisen ord- nen wir bis ins hohe Alter zeitlich ein, der Weg zum Bäcker dagegen verschwimmt imAlltäglichen. Einige Reisen haben ein Rückfahrticket, andere sind der Beginn eines neuen Lebens. „Auf Reisen gleichen wir einem Film, der belichtet wird. Entwickeln wird ihn die Erinnerung“, schreibt Max Frisch in seinem Tagebuch. Ein Satz, den viele Bewohner der Cellitinnen-Seniorenhäuser nur be- stätigen können. Sie greifen immer wieder zu Fotoalben und Dias, um in Reiseerlebnissen zu schwelgen, die plötzlich wieder sehr lebendig werden. Wie wird es den nach- folgenden Generationen wohl er- gehen, deren Urlaubsbilder auf längst aufgegebenen Mobiltelefo- nen oder Computern abgelegt und so auf dem Müll gelandet sind? Sigrun Hahn, Margret Müller und Rosa Sattelberg leben im Senio- renhaus St. Anna. An die Urlaube
amerikanischen Besatzungszone in die sowjetische zu kommen. Bei Nacht und Nebel, angewiesen auf fremde, nicht immer wohlmeinende Hilfe, kam sie schließlich in Thü- ringen an. Eine Reiseerinnerung, auf die sie gerne verzichten würde. „Aber so war das halt.“ Die meisten Erinnerungen der äl- teren Damen an ihre Reisen sind positiv: Beispielsweise ein erster Urlaub nach dem Krieg bei Ver- wandten in Essen mit Feuerwerk im Gruga Park. In den fünfziger Jahren standen Bergwanderungen in Österreich, später im ehemaligen Jugoslawien oder auf Mallorca an. Bus- und Schiffsreisen auf und ent- lang der Mosel, auf dem Rhein und dem Neckar machten sie bis ins
mit den Eltern und später mit den Kindern können sich alle noch gut erinnern. Bei Erinnerungslücken helfen den Damen ihre Fotos. 1938 stand für Sigrun Hahn, damals zehn Jahre alt, der erste Urlaub mit El- tern und zwei Brüdern an. Mit dem Auto, einem Opel Olympia, ging es von Heidelberg in die Alpen, an den Chiemsee. Der See, die hohen Ber- ge – noch heute kann sich Sigrun Hahn an Gefühle oder Gerüche aus jenem Urlaub erinnern. Präsent ist ihr auch eine Reise von ganz ande- rer Art. Als Siebzehnjährige fuhr sie nach Kriegsende von Heidelberg, wo sie noch zur Schule ging, nach Thüringen. Dort lebte, sicher vor dem Bombenkrieg in den Städten, ihre Familie. So wie heute Flücht- linge aus dem Nahen Osten oder Afrika über Schlepperrouten in die EU kommen, musste sie die ‚Grüne Grenze‘ überwinden, um von der
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