Cellitinnen 4_2016

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Die Tochter des Pferdehändlers Aus der neuen Reihe: Lebensgeschichten

großen Bauernhof. Alle Freundin- nen beneideten meine Mutter. Bis dahin verlief das Leben meiner Mutter sehr glücklich.

1956 wurde ich geboren, kurz darauf meine jüngere Schwester Nermin. Als meine kleine Schwester krank wurde, fehlte es an Geld für Medikamente. Die Kleine starb mit zwei Jahren. Ihren Tod hat meine Mutter bis heute nicht verwunden. Daraufhin beschloss mein Vater, in Deutschland sein Glück für die Fa- milie zu suchen und nahm1962 eine Stelle bei den Kölner Ford-Werken an. Die erste Zeit war sehr schwierig für ihn. Er hatte ein Kind verloren, seine Familie zurückgelassen, lebte in einem Land, dessen Sprache er nicht verstand und musste sich im Männerwohnheim mit mehre- Als Gastarbeiter in Deutschland

Harte Zeiten

Im September 1950 kam meine Schwester Fatima auf die Welt. Die kommunistische Regierung in Bulgarien hatte zu der Zeit bereits mit der Zwangsassimilation der türkischstämmigen Bevölkerung begonnen. So musste die Familie Hals über Kopf mit dem drei Mona- te alten Säugling fliehen. Meine El- tern ließen alles zurück, den großen Bauernhof, Geld und Wertsachen und machten sich auf den Weg in die Türkei. Drei Monate brauchten sie, bis sie erschöpft und krank die türkische Grenze erreichten. Dort wurden alle medizinisch versorgt, dann ging es weiter per Fracht- schiff. Nach einigen, an Nerven und Körper zehrenden Irrwegen erreichten sie schließlich Izmir. An die guten Zeiten in Bulgarien konnte die Familie nicht mehr anknüpfen. Meine Mutter bekam über Bezie- hungen eine Stelle als Vorarbeiterin in einer Tabakfabrik. Die Arbeits- bedingungen waren sehr hart, es wurde im Akkord gearbeitet. Wer die vorgeschriebene Menge nicht schaffte, wurde entlassen und konnte seine Familie nicht mehr ernähren. Meine Mutter hat in ihrer Position vielen Frauen geholfen, die zu schwach waren, um das Tages- pensum zu schaffen.

Nesibe Dincer und Tochter Sevim in den Hausgemein- schaften St. Augustinus

Meine Mutter Nesibe Dincer wurde 1932 in Bulgarien geboren. Bulga- rien gehörte damals zum Osma- nischen Reich, daher lebten dort auch viele türkischstämmige Ein- wohner. Mein Großvater war ein an- gesehener und reicher Pferdehänd- ler. ‚Hussein der Pferdehändler‘ war selbst in Griechenland ein Begriff. Wenn er von seinen Verkaufsreisen zurückkam, hatte er die Taschen voller Gold. Mit 18 Jahren heiratete meine Mut- ter meinen Vater. Die Hochzeit war, wie damals üblich, arrangiert. Als cleverer Geschäftsmann hatte mein Großvater für seine Tochter eine sehr gute Partie ausgewählt. Die Familie meines Vaters hatte einen

Vater Dincer arbeitet bereits in Deutschland bei Ford in Köln, Mutter und Töchter sind noch in der Heimat

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